Wäre jemand das letzte halbe Jahr im Koma gelegen, würde heute wachwerden und sich die Lage, in der wir uns hierzulande gerade befinden, mit frischem Blick anschauen, er würde seinen Augen nicht trauen. Wie konnte das passieren? Sind die Menschen etwa völlig durchgedreht? Wie konnte in so kurzer Zeit, so viel schiefgehen?
Die Medien kann er dabei getrost auslassen, denn die würden nur gewisse Rechtfertigungen und Ausreden vorsetzen, wieso alles angeblich so sein muß, wie es ist. Wer einfach nur diese hässlichen, widerlichen Masken in schönen Gesichtern sieht, die neuen, völlig absurden Regelungen und Gebote, die festmontierten Scheiben an Kassen, die Massen an Hinweisschildern vor Eingängen, wie das massive Polizeiaufgebot bei friedlichen Versammlungen und Kundgebungen, die sogar verboten oder aufgelöst werden, der wird die Welt nicht mehr verstehen.
Heute sah ich z. B. einen vollen Schulbus mit Kindern im Grundschulalter an mir vorbeifahren: Alle darin mit Maske, mit traurigen Augen dreinblickend. Diesen Eindruck werde ich wohl mein Leben lang nie mehr vergessen, so übel ist das reingefahren. Das ist aber eben, wenn man die Welt mit direktem, unverstelltem Blick wahrnimmt, ohne Verstandesfilter dazwischen, wie fast alle Menschen um einen herum, die das natürlich sofort puffern und Erklärungen haben, wieso das angeblich so sein muß. Das direkte Wahrnehmen ist auch keine große Fähigkeit, etwas, was jemanden irgendwie besonders macht, sondern es ist das Einfachste und Selbstverständlichste der Welt. Es ist der Verstandesnebel, der unnötig verkompliziert und vom Boden der Tatsachen abheben läßt.
Eine Kindheit mit Maske, ohne frische Luft, ohne Kontaktmöglichkeit, ist eine genommene Kindheit, ohne Zweifel. Und ja, selbst wenn es nur hier und da zeitweise erfolgen muß. Jede Sekunde ist eine zuviel. Nun dachte ich, daß ich es schon schwer hatte, aber wenn ich mir anschaue, was da gerade passiert, kann ich getrost sagen, daß ich noch Glück hatte. Ich hoffe wirklich innigst, daß die Leute, die das zu verantworten haben, einer extrem harten, leidvollen Strafe zugeführt werden, und zwar damit sie auch nur annähernd nachvollziehen, was diese Kinder da gerade erleben müssen, und was die Empfindsamen unter ihnen ihr Leben lang auch nie mehr vergessen können; keine noch so gute Therapie wird die jetzt vollzogenen Schäden jemals heilen können, das ist gewiß, weil einschneidende Erinnerungen nie austilgbar sind.
Es gibt ja die bescheuerte Frage "Sind sie politisch?" oder "Sind sie politisch interessiert?".
Wenn ich viele Leute um mich herum betrachte, dann kommt ganz schnell Verdacht auf, daß viele das mit Nein beantworten würden. Ist eh unwichtig, eh nur im außen oder Es geht an mir vorbei, kann da doch eh nichts ausrichten, also was soll noch das Ganze verfolgt werden. Solange meine Lebensumfeld einigermaßen Ok ist, paßt alles.
Vielleicht leiden Menschen still und heimlich, aber die Verantwortung dafür wird nicht übernommen, obwohl sie immer bei einem selber liegt. Wird diese nicht aufgegriffen, nun, dann erleben wir das, was wir gerade erleben, und andere Menschen schwingen sich auf und drücken allen Menschen Dinge auf, die sie aber gar nicht wollen bzw. man redet ihnen ein, was sie zu wollen haben. Politik ist nämlich vor allem eines: Wille von Einzelnen. Auch das Verleugnen der eigenen Interessen ist eine Form des Willens. Und wenn viele das tun, dann strömt in dieses Vakuum der Wille anderer hinein, in der Geschichte oft der von machtbessenen Egomanen und Psychopathen, die die Schwäche von Sich-zu-Untertanen-Degradierenden einfach für sich ausnutzen. Wer da Mitgefühl oder Einsicht moralisch einfordert, hat überhaupt nichts begriffen.
Das ist jetzt aber gar nicht mein Thema. Mein Thema ist: Politik ist für mich nicht nur ein beliebiges Interesse, sondern das, was mich Tag für Tag als Mensch bewegt. Es ist sozusagen mein Leben, von morgens, wenn ich aufstehe, bis abends, wenn ich ins Bett gehe. Da ist nicht: Mal schaue ich, was in der Welt los ist, mal kehre ich mich ab und meditiere alleine im Kämmerlein. Mal wäge ich ab, mal orientiere ich mich so, mal so, mal schließe ich Kompromisse, mal nicht. Das ist völlig falsch gedacht, denn ich bin die Welt. Mein Innenleben kann ja genauso wahrgenommen werden, wie alles, was sonst so hierzulande und auf der Erde passiert. Da gibt es kein Steuern der Aufmerksamkeit. Ich als Mensch kann mich da nicht heraussubtrahieren, sondern bin gleichwertiger Bestandteil von allem, was passiert. Da ist auch kein Präsident oder Heiliger überlegen, und kein Toilettenputzer oder Bettler unterlegen. Dadurch erübrigt sich auch die Frage, ob jemand politisch ist, denn würde das jemand nicht sein, so kann man getrost davon ausgehen, daß dieser Mensch nicht mehr existiert, also tot ist, selbst wenn vielleicht sein biologischer Körper weiter vor sich hin krebst.
Politik ist das Interesse am Leben, an deinem Leben. Deswegen hat es auch jeden anzugehen, was momentan bezüglich der Freiheitsberaubung in diesem Land passiert. Das sind momentan nicht einfach nur sich-selber-aufspielende Leute, die meinen, es gerade jetzt nötig zu haben, auf die Straße zu gehen a la Was wollt ihr alle gerade jetzt auf die Straße? Ja mei, momentan scheint das nicht zu gehen, aber die Verantwortlichen sagen ja, daß das nur vorrübergehend so ist. Diese Nervensägen können alle aber nicht warten, und müssen gerade jetzt demonstrieren. Die haben doch alle Würmer im Arsch und können nicht brav wie all die anderen Leute einfach vertrauen, sitzen und abwarten.
Allen Typen, die so denken, wird das Lachen noch vergehen, dessen bin ich mir sicher. Es ist immer besser, die Wahrheit wie sie ist, an sich heranzulassen, auch wenn sie unangenehm ist, als sich so aus der Wirklichkeit davonzustehlen, denn früher oder später wird sie einen sowieso einholen, dann jedoch unfreiwillig und umso härter. Dann beginnt das große Zetern und die Schuldzuweisungen, wenngleich man selber immer derjenige war, der kein Interesse daran hatte, zu erfahren, was wirklich vor sich geht.
Und gerade jetzt ist es wichtig, genau das zu machen, was alle anderen als unnötig und falsch bezeichnen. Genau da beginnt nämlich erst Politik lebendig zu werden. Genau da wird der Finger in die Wunde gelegt. Genau da zeigt sich, inwieweit jemand Freiheit ertragen kann. Da zeigt sich das erst. Nie, wo alles in bequemen und genehmen Bahnen vor sich hin dümpelt. Da schläft alles ein, da stagnieren Potentiale.
Da trotzdem reinzugehen, trotz des immensen Kollektivdrucks, braucht Mut. Man muß sich vor allem eingestehen, sich davor die ganze Zeit etwas vorgemacht zu haben. Und vor allem: Man fällt gleichzeitig aus diesem Kollektiv heraus. Das ist alles nicht mit einem Fingerschnipsen zu verkraften, sondern dauert bei mir schon ein paar Jahre und ist immer noch im Gange und noch lange nicht abgeschlossen. Damit ändert sich nämlich die gesamte Lebensweise, der ganze Körper fängt an anders zu arbeiten, es kommen Ängste hoch, Krisen, die gewohnte, festgefahrende Persönlichkeit gerät ins Wanken.
Wie ich bei einem Gespräch mit einer älteren Frau am Samstag in München mitbekam, ist da auch eine gehörige Portion Furcht vor Isolation mit im Spiel: Meine bisherigen Freundinnen verstehen mich nicht mehr, meine Nachbarn halten mich für verrückt. In meinem bisherigen Lebensumfeld kann ich nicht mehr frei sprechen. Ich merke mehr und mehr völlig alleine dazustehen. Auf der einen Seite ist das alles ziemlich grausam und traurig, auf der anderen Seite - und das ist das einzig Relevante - ist das alles das beste Zeichen, daß die echte Politik im eigenen Leben zu wirken beginnt. Der Mensch fängt nun überhaupt erst an, ein Mensch zu sein. Davor war er nur Manövriermasse, eine Puppe, die völlig fremdprogrammiert ist. Nun kommt der Mensch in die Lage, Kontakt mit anderen echten Menschen aufzunehmen, die genauso nicht mehr Marionetten sind, sondern mündig, selbstverantwortlich und aufgeklärt in ihrer Existenz stehen. Das Abenteuer Mensch-sein kann beginnen.
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